Ukraine und der Sound des Krypto Krieges
Apr 06, 2022 Marcell Nimführ lesezeit 12 Mins
Kryptowährungen wird oft nachgesagt, sie seien zu virtuell, um mit der „realen“ Welt verbunden zu sein. Doch in Zeiten eines verheerenden europäischen Krieges ist die Krypto-Gemeinschaft entschlossen, die überfallene Ukraine zu unterstützen, selbst wenn einige der Freiheitswerte der Kryptofans in Gefahr sind. So fühlt sich die Hilfe für ein Volk in Not an.
Wie erleben die Ukrainer*innen die Nächte in Kyiv und vielen anderen Städten der Ukraine im Frühjahr 2022? Anstatt zu schlafen, werden sie vom Sound der Sirenen wachgehalten, die sie in die Bunker und die Metro rufen, um sich vor dem kommenden Bombardement in Sicherheit zu bringen.
Manche Erklärhinweise müssen am Anfang stehen: Ich habe eine Schwiegerfamilie aus der Ukraine. Die Family und einige Freunde sind nach gefährlicher Flucht nun sicher in Wien. Einige wohnen in unserem Haus, einige an anderen Orten. In diesem Artikel kann es weder Objektivität noch Neutralität geben. Aber es gibt Raum für einen inneren Konflikt, der in der gesamten Kryptowelt vorhanden sein könnte. Als emphatische Menschen begrüßen wir es, dass Krypto eingesetzt wird, um Menschen in Not zu helfen. Als Krypto-Nutzer, die keine Grenzen wollen, haben wir sicherlich gemischte Gefühle, wenn wir sehen, dass Börsen, Metaverse-Projekte und Aufsichtsbehörden einen Asset-Stopp für russische Besitzer fordern.
Dieser Teil der Geschichte beginnt am 27. Februar 2021, drei Tage nach Beginn der Invasion, mit einem Tweet.
DMarket, ein auf Krypto-Token basierender Marktplatz für In-Game-Gegenstände wie Skins für Spiele wie CS:Go, kündigt an, dass sie die Konten von Nutzer*innen aus Russland und Weißrussland, den Kriegsparteien der Invasion, sperren werden.
Wie sich herausstellt, wurde DMarket zwar durch ein Crowdfunding der Gaming Community und Silicon Valley Venture-Kapitalfonds finanziert und hat seinen Sitz in Santa Monica, Kalifornien, doch die Gründer stammen aus der Ukraine. Einer von ihnen ist CEO Vlad Panchenko, der einen Master-Abschluss in Geschichte von der Taras Shevchenko Universität in Kiew hat. Im Gegensatz zu den meisten Experten im Westen war Panchenko wachsam genug, um 100 Mitarbeiter*innen und ihre Familien nach Montenegro zu fliegen – sechs Tage vor Ausbruch des Krieges.
All dies macht das Einfrieren der Vermögenswerte von DMarkets verständlich. Das Unternehmen und seine Führungskräfte haben im wahrsten Sinne des Wortes alles zu verlieren.
DMarkets Ankündigung wäre vielleicht keine so große Geschichte geworden, wenn nicht der 31-jährige Mykhailo Federov mit seinem eigenen Retweet die Sache weiter auf die Spitze getrieben hätte:
Es stellt sich heraus, dass der ungestüme Fedorov der ukrainische Minister für Digitalisierung ist, der aus dem (zu dem Zeitpunkt leicht) belagerten Kiew mit der Würde der Autorität etwas über DMarkets Ziel hinaus twittert. Es kommt zu einem kleinen Shitstorm, der die Stimmung in der Kryptosphäre widerspiegelt. Ein Joie-de-Vivre twittert: „Regierungen in Krypto – das ist es, was wir im Krypto-Raum vermeiden. Es fühlt sich so an, als könnten alle meine Krypto-Freunde betrogen werden, wenn Regierungen Probleme haben. Schade.“
ChainLinkGod fügt hinzu: „Zensurresistenz ist eine der Schlüsseleigenschaften hinter Krypto, die es jedem auf der Welt erlaubt, frei zu handeln. Das kann von Diktatoren bis hin zu Menschenrechtsaktivisten reichen. Ein Werkzeug der Freiheit ist ein Instrument, das zum Guten oder zum Bösen eingesetzt werden kann, nicht anders als das Internet.“
Abgesehen von der libertären Moral gibt es noch eine größere Frage, auf die hinzuweisen ist: Wie kann ein Unternehmen in einem dezentralen technologischen Raum Vermögenswerte einfrieren? Dmarket, wie auch fast jede andere Börse von Binance über Bitpanda und Coinbase bis Kraken, ist zentralisiert. Ihre Besitzer*innen sind Torwächter, sie haben die gleiche Macht über Vermögenswerte wie eine Bank, die die Konten des russischen Staates oder seiner Oligarchen einfriert.
Viele Krypto-Amateure stellen fest, dass Krypto weit weniger frei ist, als sie denken. Es gibt nicht nur kaum einen Unterschied zwischen einer Bank und einer Krypto-Börse, eine Bank hat in der Regel auch transparentere Vorschriften, wenn es darum geht, Kontoinhaber*innen außen vor und ihr Geld fern von ihnen zu halten. Dies ist für Insider nichts Neues, weshalb sie oft darauf bestehen, Vermögenswerte in Hardware-Wallets zu speichern.
Krypto ist ein immaterieller Raum, daher ist es eine erdende Erfahrung, sich nochmal vor Augen zu führen, was in Europa im Frühjahr 2022 auf dem Spiel steht –
Das Leben von 40 Millionen Ukrainern steht auf dem Spiel. Bis Anfang April sind 3,8 Millionen aus dem Land geflohen, weitere 7 Millionen gelten als Binnenvertriebene, viele von ihnen in westukrainischen Städten wie Lviv, die auch dort nicht von einschlagenden russischen Raketen verschont bleiben. Dieser Krieg hat die schlimmsten Gräueltaten auf europäischem Boden in den letzten 80 Jahren verursacht, aber auch die größte Unterstützung unter den Europäer*innen und Menschen weltweit.
Die Krypto-Crowd mag zwar unglücklich sein, wenn es um die Beschneidung ihrer Freiheiten geht, aber sie packt kräftig mit an und will mit dem helfen, was sie am besten kann: Krypto.
Aid for Ukraine
Als das Unchained-Magazin von Blockpit Sergey Vasylchuk kontaktierte, sagte er nur: „Wie kann ich helfen?“ Das war auch sein Mantra, sobald er die fassungslose Überraschung des russischen Angriffs abgeschüttelt hatte. „Die ukrainische Regierung […] sie sind Rockstars, aber sie brauchen Unterstützung“, sagte Sergej kürzlich dem Magazin Forkast. Der ukrainische Gründer des Krypto-Staking-Unternehmens Everstake.one, der einige Tage vor Kriegsbeginn in den USA gestrandet war, während seine Familie noch in Kiew lebte, erkannte, dass in Kriegszeiten die fehlende Rechtssicherheit die Überweisung von Spenden in sein Heimatland erschwert, insbesondere aus den USA.
Um eine Brücke zu bauen, gründet Sergey eine dezentrale autonome Organisation (DAO) namens Aid for Ukraine, deren Grundregeln sein Team und seine Freunde von der Blockchain Solana geschrieben haben, deren Aktionen sie aber nicht kontrollieren.
Die DAO sammelt Kryptoassets in verschiedenen Formen und überweist sie direkt an die Nationalbank der Ukraine von wo das Geld verteilt wird. Das soll viel schneller gehen als die von den USA und anderen Ländern versprochene Hilfe, und die Zeit drängt.
Die Zeit läuft gegen die Einwohner*innen von Mariupol. Dies ist eine Stadt, die buchstäblich dem Erdboden gleichgemacht wurde, in der Kinder in zu ihrem Schutz speziell gekennzeichneten Unterkünften trotzdem bombardiert werden, in der eine Freundin von uns im letzten Moment mit 14 Katzen aus ihrem Tierheim geflohen ist, nur um kurz hinter der Stadtgrenze in feindlichem Gebiet ohne Benzin liegen zu bleiben.
Hier ist ein Beitrag einer anderen Einwohnerin von Mariupol, Nadia Sukhorukova, die ihre Erfahrungen schildert:
Angesichts dieses …mir fehlen hier einfach die Worte um dieses Leid zu beschreiben …. was kann die Idee einer einzelnen Person, in diesem Fall Sergey Vasylchuk, bewirken? Eine ganze Menge. Durch die Zusammenarbeit mit den Krypto-Börsen FTX aus den USA und Kuna aus der Ukraine für den Wechseln von Dollar zu Krypto und Krypto zu Ukrainischen Hrywnja hat das Projekt bis Ende März über 66 Millionen Dollar gesammelt.
Neben Tausenden von Einzelpersonen haben auch Krypto-Stiftungen von Blockchain-Firmen gespendet. Icon hat eine Million seines eigenen ICX-Tokens transferiert, Ende März waren sie 880.000 € wert. Hedera spendete 1 Mio. $ in ihrem eigenen Token. Solana hat ebenfalls einiges dazu gelegt.
Diese Spenden sind nicht nur dankenswert sondern auch token-ökonomisch bemerkenswert. Sie stammen aus der Token-Reserve der Unternehmen und waren vorher vielleicht noch nie im Umlauf. Es handelt sich um Unternehmen, die aber auch als Zentralbanken fungieren. Auf Coinmarketcap werden diese Reserven zum Beispiel als „Verwässerung“ des Gesamtwertes dargestellt. In unserem Fall haben die Token nicht nur einen Wert in einem digitalen Ledger, sondern sie bieten auch Sicherheit, Wärme und einen vollen Bauch.
Alex Bornyakov, stellvertretender Minister für Digitalisierung in der Ukraine, postet am 11. März, was die Krypto-Spenden zu dem Zeitpunkt gekauft hatten. Unter den Gegenständen sind 5.500 kugelsichere Westen, über 400.000 Lunchpakete und 500 Helme. Der letzte Posten erinnert an das peinliche vergiftete Geschenk von 5.000 Helmen, das die deutsche Bundeskanzlerin der Ukraine versprochen hatte, als das Land Monate vor dem Krieg um Verteidigungswaffen bat. Es hat sich seitdem so viel geändert. Die Ukraine bittet immer jedoch noch um diese Lieferungen.
Verzweifelte Zeiten erfordern mutige Maßnahmen. In einem schnellen Schritt legalisiert die Ukraine Mitte März Kryptowährungen und verabschiedet ein Gesetz, das Präsident Zelenskyj vor einem halben Jahr noch blockiert hatte.
In einer anderen Realität ist die Lage in Mariupol so schlimm, dass „Verzweiflung“ zu einem bedeutungslosen Wort geworden ist, wie Nadia Sukhorukova beschreibt.
Das Bild des Krieges und die Kunst des Gebens
Menschen spenden aus Güte, und die Tat ist ihre Belohnung. Manchmal möchten die Empfänger jedoch ihre Dankbarkeit zeigen und mit einem Gegengeschenk etwas zurückgeben. Gab es jemals eine bessere Verwendung für ein digitales Kunstwerk, verpackt in einem NFT (Non Fungible Token) denn als Zeichen der Dankbarkeit?
Das dachten sich sichtlich auch die Initiator*innen des Projekts metahistory.gallery und richteten ein virtuelles Kriegsmuseum ein. Dutzende von Künstler*innen schaffen visuelle Erinnerungsstücke an die Ereignisse eines jeden Tages während des Krieges. Sie schreiben nicht nur die Gräueltaten und die tapferen Taten in ein unsterbliches Zeit-Gedächtnis, die Kunstwerke werden auch als NFTs verkauft.
Es braucht nur eine schnelle Verbindung mit einer Wallet wie Metamask, eine Zahlung von 0,15 Ether und man erhält einen frisch geprägten „Druck“ eines der derzeit 100 Originalstücke. Der Erlös geht an das ukrainische Verteidigungsministerium, was dieses Projekt zu einem der ersten NFT-Verkäufe macht, die von einer Regierung unterstützt werden.
Leider habe ich bei dem Sale von metahistroy keine freie Wahl, ich würde das Bild der Illustratorin Anna Ivanenko kaufen, das die Bombardierung von Schulen, Kindergärten und Krankenhäusern darstellt – in dunklen Tönen mit brennendem Himmel. Wir haben Anna kontaktiert und erfahren, dass sie sich jetzt in einem sichereren Teil des Landes befindet. Wir haben sie gebeten, eine Illustration für diesen Artikel zu zeichnen. Es ist oben auf dieser Seite zu sehen. Ich bin sowohl stolz darauf, als auch bedrückt, dass es existiert.

Ukrainer*innen – Menschen mit Talent
Wie ist es möglich, dass Ukrainer*innen – aus der Not heraus und doch wie aus dem Nichts – eine Kette aufbauen können, die wohltätige Menschen mit Hilfe modernster Technologie mit einer Vielzahl von Hilfsinitiativen vor Ort verbindet, die den ganzen Globus umspannen, eine nationale Regierung mobilisieren und Wege finden, Geld zu sammeln, zu überweisen und die Güter zu verteilen?

Vor allem, wenn man bedenkt, dass die oben genannten und dutzende andere Initiativen dieses Kunststück innerhalb weniger Tage vollbracht haben. Die Menschen sitzen in U-Bahn-Stationen oder Bunkern, verlegen Internetkabel und hacken auf ihren Laptops.
Was viele außerhalb des IT-Sektors nicht wissen: Die Ukraine hat sich zu einem wichtigen Exporteur von technischen Fachkräften für westeuropäische und US-amerikanische Unternehmen entwickelt. Die Gartner Group schätzt, dass vor dem Krieg 100.000 IT-Spezialisten remote arbeiteten.
Die Mutterfirma des Unchained Magazins, Blockpit, beschäftigt drei Softwareentwickler aus der Ukraine und weiß um den Wert ihrer Ausbildung und Erfahrung. Das wissen auch viele andere Unternehmen: Websites – entstanden in den vergangenen Wochen – verbinden heute die entwurzelten Spezialist*innen mit Jobs im Westen. Linkedin ist zu einer Goldgrube für die Rekrutierung von Unternehmen geworden, die Anzeigen mit dem Titel „Wir stellen Ukrainer*innen ein“ veröffentlichen.
Möglicherweise gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Reichtum an technischen Talenten und einem Bericht von Chainalysis, der die Ukraine auf Platz vier bei der Akzeptanz von Krypto weltweit sieht. Es ist bemerkenswert, dass kein anderes europäisches Land unter den Top 20 dieser Liste zu finden ist.
Auch wenn viele Ukrainer nicht auf einen Krieg vorbereitet waren, so waren sie doch gut ausgebildet, erfahren und bereit zu handeln, als er ausbrach.
Nichts kann die Erfahrung von Nadia Sukhorukova lindern, und aus meiner früheren Arbeitserfahrung in Kriegs- und Krisengebieten weiß ich, dass keine Hilfe die Narben des Traumas auf die Schnelle heilen kann. Nadia schrieb ihren ursprünglichen Beitrag am 19. März. Es war ihr letzter Post aus Mariupol. Einen Tag später floh sie aus der Stadt und wohnt jetzt in der Region Odessa.
Alles, was wir tun können, ist, sie und alle anderen Menschen dieses Landes weiter zu unterstützen. Mit Krypto und bei Hodlern gern auch mit Fiat.
PS: Hier sind Nadias vollständiger Beitrag und eine eindringliche Lesung auf Englisch davon.
https://raamoprusland.nl/dossiers/stemmen-uit-de-oorlog/2066-in-this-city-everyone-is-waiting-for-death
https://www.youtube.com/watch?v=z777bmg-Nro